Irgendwann im Winter 1994, Anfang Dezember – es war ein
Freitag, einer jener trüben kalten Tage, an denen es auch tagsüber nicht mehr richtig
hell wird. Zum Wochenende wollte ich meine damalige Freundin besuchen und hatte
geplant, die ganze Nacht durchzufahren. Ich fahre auch heute noch gern nachts,
um etwaigen Staus und dem dichten Lastwagen- oder Berufsverkehr zu entgehen. Man
fährt nachts einfach entspannter. Ich hatte meinen Seminarplan an der Uni in Berlin so organisiert,
dass ich ab Mittag frei hatte oder je nach Lust oder Unlust die betreffenden
Lehrveranstaltungen schwänzte, damit ich noch vor dem nachmittags einsetzenden Feierabendverkehr
losfahren konnte. Planmäßig wollte ich irgendwann gegen Morgen in Mannheim ankommen.
Gegen 15 Uhr, als ich aufbrechen wollte, war die Luft schon ziemlich frostig;
vereinzelt hatten sich Schneeflocken auf der Windschutzscheibe niedergelassen. Der
eisige Wind malte Schlieren auf den Asphalt. Als ich endlich die Avus
erreichte, hatte die Dämmerung schon eingesetzt. Ich wechselte auf den Berliner
Ring, gab Gas und drehte das Radio laut. Kann auch sein, dass ich eine der Musikkassetten
einlegte, die ich damals immer im Handschuhfach des Armaturenbretts liegen
hatte.
Da ich wie so oft zu bequem gewesen war, in Berlin zu
tanken, musste ich etwa auf der Höhe des Rasthofs Ziesar oder Theeßen (die kurz
aufeinander folgen) einen Boxenstopp einlegen. Grob gerechnet liegt das auf
halber Strecke zwischen Berlin und Magdeburg. Ich hielt da auch oft aus reiner
Gewohnheit – es war ein guter Ort zum Verschnaufen und bot die Gelegenheit für
eine kleine Pinkelpause. Die paar Pfennige, die der Liter Sprit an der Autobahn
mehr kostete als in Berlin, waren mir egal, so wie ich damals auch generell ziemlich
sorglos und unbekümmert war.
Nach dem Tanken fuhr ich mit dem Wagen ein paar Meter weiter
bis zur unbeleuchteten Rückseite der Tankstelle, um noch in Ruhe einen Schluck
Wasser zu trinken und einen Moment durchzuatmen, bevor es auf der nächsten
Etappe bis zum Kreuz Hannover weitergehen sollte. Ich schaltete Licht und Motor
aus und schloss kurz die Augen. Die A2 war um diese Zeit wenig befahren; nur ab
und zu hörte man ein schnelles Fahrzeug vorbeirauschen. Plötzlich ein dumpfes Klopfen.
Jemand pochte an die Scheibe der Beifahrerseite. Aus meinem dösenden Zustand
heraus schreckte ich hoch und öffnete die Augen. Zu erkennen war im ersten
Moment nichts. Die Finsternis begann direkt vor der Motorhaube. Ich lehnte mich
nach rechts und kurbelte das Beifahrerfenster ein Stück weit herunter: Der Kopf
eines etwas zerzaust und verfroren wirkenden Mannes tauchte aus der Dunkelheit
auf. Ein Mann mittleren Alters, vielleicht zwischen 40 und 45; er wirkte zäh
und kräftig, mit harten wettergegerbten Gesichtszügen. Keine Ahnung, wo der Typ
hergekommen war. Ich hatte weder gehört noch gesehen, dass sich jemand meinem
alten Opel Kadett genähert hatte; und Scheinwerfer eines anderen Fahrzeugs
hatte ich auch nicht im Rückspiegel bemerkt. Der Mann hatte einen großen roten Rucksack
mit Tragegestell dabei und sah etwas verwirrt aus, gab sich aber betont
höflich. Sagte, er hätte bis eben an der Seite, in den windgeschützten Büschen gehockt
und gehofft, dass ihn noch jemand mitnähme. Zu dieser Tageszeit aber
aussichtslos. Wie man sich denken kann, fragte er auch mich nach einer Mitfahrgelegenheit.
Es war mittlerweile schon erbärmlich kalt, deutlich unter null. Angeblich war
der Typ schon den ganzen Tag per Anhalter unterwegs gewesen und von einem
freundlichen Fernfahrer bis zu diesem selten von Lkws angefahrenen Rastplatz
mitgenommen worden. Vor ein paar Stunden hätte ihn der Trucker hier abgesetzt, da
er die Autobahn an dieser Ausfahrt verlassen musste. Da man von diesem kleinen Rasthof
schlecht wegkomme, sitze er also buchstäblich fest; er erzählte weiter, er
wolle noch bis Calais, zur Kanalfähre nach England. Aus Mitleid bot ich ihm an,
ihn wenigstens bis zum größeren Rasthof Börde mitzunehmen, damals ein
aussichtsreicherer Standort für Tramper, die Fernfahrer um eine
Mitnahmegelegenheit auf der A2 bitten wollen. Nicht, dass mir der Mensch
sonderlich sympathisch gewesen wäre. Nein, keinesfalls. Es war eher Mitgefühl
mit einer frierenden Seele oder pures Mitleid, gutgläubige Naivität, gepaart
mit unzureichender Menschenkenntnis – eine gefährliche Kombination, die bekanntlich
vielen, noch jungen Leuten eigen ist, die – so wie ich damals – mangels
gegenteiliger Erfahrungen noch an das uneingeschränkt Gute im Menschen glauben…
Als ich meine übliche Reisegeschwindigkeit
von ca. 130 oder 140 km/h auf der rechten Fahrspur wieder erreicht hatte, fing
der bislang schweigsame Typ spontan an zu quatschen wie aufgezogen. Er duzte
mich und begann, mir seine bedauernswerte Lebensgeschichte zu erzählen, wobei
er sich in Rage redete und allmählich immer lauter wurde. Seit seiner Geburt sei
ihm Unrecht geschehen, er sei in Waisenhäusern aufgewachsen und von Nonnen grausam
misshandelt worden; dann habe man ihn in eine Klapsmühle gesteckt, wo er mit
Elektroschocks gefoltert worden sei. Sein Arsch tue ihm immer noch jeden Tag
weh und bedürfe ständiger Pflege. In diesem Stil ging es dann noch eine Weile
weiter…
Ein ungutes Gefühl regte sich in
mir. Der Typ schien doch leicht gestört zu sein. Hatte ich mir einen
Psychopathen ins Auto geholt? Heutzutage sind derlei Begegnungen ja mehr oder
weniger normal, aber damals in den 90ern liefen noch nicht ganz so viele Irre und
Kriminelle frei rum wie jetzt. Üblich waren auch noch Maßnahmen wie Sicherungsverwahrung
und Grenzkontrollen, die den Bürger vor allzu intensiv bereichernden Einflüssen
abschirmten, um das mal wertfrei anzumerken. Wie dem auch sei…
Von der anfänglichen Höflichkeit des
einsamen Trampers war jedenfalls nichts geblieben. Während er lamentierte, wedelte
er ständig mit einem abgegriffenen Tagebuch im A4-Format vor meinem Gesicht herum,
in dem er alles notiert habe und mit dem er alles beweisen könne, um die
„Schweine dranzukriegen“. Die Presse, Amnesty International und Spiegel TV (oder
war es Stern TV?) seien auch schon an der Story dran…
Ich musste aufpassen, dass ich die
Fahrbahn nicht aus dem Blick verlor. Dennoch versuchte ich, immer mal nach
rechts zu schauen, um meinen neuen Mitfahrer, der sich offenbar als Psycho entpuppt
hatte, im Auge zu behalten. Zur Beschwichtigung gedachte Bemerkungen meinerseits
schienen ihn seltsamerweise nicht zu beruhigen, sondern seine Empörung nur noch
weiter anzustacheln. Plötzlich hielt er eine Spritze in der Hand. Ja, irgendwie
hatte der es geschafft, eine voll aufgezogene Spritze aus der Vordertasche
seines Rucksacks zu holen, den er sich über seine Knie gelegt hatte. Er zog dann
eine Schutzkappe oder eine Art Korken von der Spitze der Kanüle; ich sah, dass der
Spritzenbehälter mit einer klaren Flüssigkeit befüllt war. „Zyankali“, erklärte
er in ehrfurchtsvollem Ton. Ein befreundeter Arzt habe ihm die Lösung besorgt
und zur Injektion vorbereitet. „Ein wirklich guter Freund“, betonte er. „Ich
war echt am Ende, Mann. Du hast ja keine Ahnung. Bevor du kamst, war ich kurz
davor, mir den letzten Schuss zu setzen.“ Ich spürte seinen Blick von der Seite.
Ein lauernder Blick – zumindest war es das, was ich mir einbildete.
„Geht ganz schnell, kurz und
schmerzlos, man spürt nichts.“
Ich versuchte mir nichts anmerken zu lassen und hätte doch
fast das Lenkrad verrissen, so sehr erschrak ich.
„Hey, bleib mal ganz ruhig, ist doch alles okay“, versuchte
ich ihn zu beruhigen. Ich hoffte, das Zittern in meiner Stimme unterdrücken zu
können. Ich wusste natürlich nicht, was man einer solchen Situation am besten
sagen oder wie man mit einem Gestörten umgehen sollte.
„Sag du mir nicht, was ich zu tun hab! Dir geht’s natürlich gut.
Fährst hier satt und zufrieden in deinem Spießerauto durch die Gegend, während
andere Leute hungern; Student, wahrscheinlich reiche Eltern, was? Genug Geld für
Luxus haste also und fährst jetzt zu deiner Freundin, um sie zu ficken.“ Seine
Stimme hatte jetzt einen verächtlichen Klang. Dann anklagend: „Als
ich so alt war wie du, hatte ich nicht mal genug zu fressen… Wassersuppe gab’s
und Schläge jeden Tag und Elektroden bekam ich in den Arsch gesteckt…“ In lautstarkem
Ton setzte er seine Litanei fort, wobei er noch mehrmals wiederholte, dass ich ja
keine Ahnung habe, was man ihm angetan habe und überhaupt…
„Halt mal hier an. Ich will dir was zeigen, was du nicht
vergessen wirst.“ In der rechten Hand hielt er immer noch seine angebliche Todesspritze.
„Aber ich kann doch hier nicht…“
„Na stell dich nicht so an, ist doch gar kein Verkehr. Fahr einfach
an die Seite, und halte auf dem Standstreifen.“
Panik erfasste mich. Was tun? Der Typ könnte mir schließlich
jeden Moment die Kanüle in den Arm stechen. Wehren ist natürlich immer
schwierig, wenn man auf engstem Raum auf dem Fahrersitz hockt und neben dir ein
Verrückter mit ner Spritze lauert.
Unter meinem Fahrersitz hatte ich zwar noch einen alten
Klappspaten aus Armeebeständen verstaut, aber um da erstmal heranzukommen und den
aufzuklappen, brauchte man Bewegungsfreiheit…
Ich war mir ziemlich sicher, dass seine Todesspritze kein Bluff war. Ich wusste es natürlich nicht und habe es nie erfahren, da ich sie später mit den anderen Sachen entsorgt habe, aber irgendwie spürte ich, dass die Gefahr real war: Ich kann bis heute nicht sagen, was es genau war, das in mir diese Furcht ausgelöst hatte: die seltsamen Umstände des Aufeinandertreffens, der irre Blick, die wütende Stimme des Typen? Ich denke, wer auch immer mal in Lebensgefahr gerät, spürt es instinktiv. Es ist wie ein kurzer panikartiger Moment, in dem dich ein starkes, unbezwingbares Angstgefühl durchströmt und dich kurz schauern lässt… Das Gefühl geht durch und durch, man ist hellwach, alle Sinne und Muskeln sind angespannt.
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